Wer dem Kulturforum auf Social Media folgt, hat es schon gesehen: Vergangene Woche war ein Filmteam aus Potsdam in Tartu. In der Hauptrolle: die Stadt – und ich. Eine ziemlich ungewohnte Situation. Ich habe vor vielen Jahren mal als Komparsin bei TV-Produktionen mitgespielt, allerdings geschminkt und verkleidet, ohne Text und nur im Hintergrund. Nun also groß und in Farbe, moderieren, Interview geben, Interviews führen, Protagonistinnen treffen – es sollte ja ein echter Einblick in die Arbeit als Stadtschreiberin sein. Ich bin schon gespannt auf das Ergebnis, fertig soll der Film im Herbst sein.
Zeit für einen Tapetenwechsel. Ich steige in den Bus und fahre aus der Stadt. 50 Minuten, 40 Kilometer, zwei Euro kostet das Ticket. Mein Ziel: Varnja, ein kleines Dorf am Peipussee, östlich von Tartu. Mittagshitze.
Ich biege in eine schmale, langgezogene Straße ein. Holzhäuser links und rechts, Apfelbäume, Kirschbäume, ein Storchennest. An einem Haus steht das Holztor offen, Voronja Galerii steht dran.
In der Küche rührt Raul Oreškin mit schwungvollen Armbewegungen in einer Schüssel. Mehl, Milch, Zucker. Was ist noch drin? „Viel Butter, Eier, und Kardamom“, sagt er. Ein Rezept aus seiner Kindheit. Zu dünnen Röhren gerollt liegen die gebackenen Waffeln in einer Schale. Oreškin hat Varnja vor elf Jahren zufällig entdeckt und entschieden zu bleiben. Mit seiner Frau Kaili Kask betreibt er die Galerie mit Café. Der Garten: ein Mix aus Sitzecken, Skulpturen, Malerei und hüfthohem Rhabarber.
Kulturhauptstadt ist auch hier. Soll auch hier sein.
Varnja liegt an der Zwiebelstraße, die sich am Peipussee nach Norden zieht. Früher lebten die Menschen hier vor allem von Fischerei und Zwiebelanbau, und noch heute sagen sie, die besten estnischen Zwiebeln kommen vom Peipussee. Zwiebeldörfer, Zwiebelkuchen, Zwiebelsuppe. Selbst die Kirchtürme tragen kleine goldene Zwiebeln, und ein orthodoxes Kreuz.
Eine Frau bleibt vor Varnjas Kirche stehen, die Haare von einem Kopftuch mit Blumenmuster bedeckt. Sie bekreuzigt sich, verbeugt sich, dreimal, dann tritt sie ein. Seit dem 17. Jahrhundert leben Altgläubige am Peipussee, damals flohen sie vor den Kirchenreformen von Zar Alexei I. und Patriarch Nikon an die Ränder des russischen Reiches. Bis 10.000 Altgläubige lebten einst am Peipussee, heute sind es nicht einmal mehr 3.000.
Ich spaziere durch Varnja, Kasepää, Kolkja. Ein Straßendorf geht ins nächste über. Rasenmähen in Badehose, Hausbau im Bikini, aus dem Radio dudelt russische Popmusik, ein paar Gärten weiter weht die estnische Fahne. Russische Schokolade im Dorfladen, kyrillische Buchstaben am Briefkasten. Sommer am Rande Europas.
An einem Büdchen bleibe ich stehen, ein Mütterchen mit Strohhut und Schürze hat allerlei Zeug aufgebaut: Geschirr, Kleidung, Zwiebeln, in einem Eimer schwimmen rote Beeren. Sie drückt mir eine eingelegte Gurke in die Hand, redet, geht nach hinten, kommt zurück. Russisch, ich verstehe kein Wort, nicke und lächle. Spasiba, sage ich, spasiba! Später ergoogle ich noch die Worte für Hallo und Tschüss.
Wie denkt man hier über Europa? Über Russland? Die Grenze verläuft mitten durch den Peipussee.
Überhaupt, der See. Oder soll ich sagen: das Meer? Sieben Mal größer als der Bodensee, sagen die Zahlen, ich seh nur Wasser bis zum Horizont. In der Ferne schaukeln Bojen mit Fähnchen dran, ein Fischer tuckert übers Wasser, das Boot klein wie eine Nussschale. Wie das Fischersleben vor 70 Jahren aussah, zeigt ein minikurzer Film aus dem estnischen Filmarchiv.
Neben mir quakt und zirpt es im Schilf, Wellen schwappen ans grasbewachsene Ufer. Stille. Seit Anfang Juni die Straße vor meinem Haus in Tartu aufgerissen wurde, tanzt dort jede Woche das Baggerballett. Rüttelmaschine und LKWs machen den Sound dazu. Peipussee ist Kontrastprogramm. Weit und groß und irgendwie friedlich. In den nächsten Jahrzehnten könnte es sogar noch stiller werden, die Zahl der Menschen sinkt stetig.
Ein paar Kilometer weiter nördlich. „Löwenstern“, flüstert es hinter mir, „das waren bestimmt Deutsche.“ Ein Ehepaar steht vor dem Portrait von Josephine von Löwenstern, darüber hängt das Foto von Arved von Nolcken, ihrem Mann. Nolcken war es, der das Schloss bauen ließ, in dem das Ehepaar und ich jetzt stehen. Vor uns Bilder einer deutschbaltischen Familiendynastie, das Familienwappen prangt daneben.
Wir gehen durch die Gänge, den Salon, den Saal. Gegen russische Schlösser sei das hier harmlos, meint das Paar. 1880 wurde der Grundstein für Schloss Alatskivi gelegt. Fünf Jahre später war es fertig – und die Ähnlichkeit zum schottischen Schloss Balmoral nicht zufällig. Drumherum lag das Gut der Nolckens, 8.600 Hektar groß. Wald, Äcker, Viecher. Den größten Gewinn, lese ich, brachte etwas anderes: das Brennen und Verkaufen von Schnaps.
Das Rentnerpaar düst auf Fahrrädern davon, ich gehe zum Bus, zuckle zurück nach Tartu. Estnische Dörfer, deutschbaltische Herrenhäuser, die Kultur der Altgläubigen, am Peipussee mischten sich jahrhundertelang Kulturen, Sprachen, Menschen. Und tun es bis heute.
Ein Gedanke zu „Die Zwiebelstraße“