„Hier hat er gewohnt, der berühmteste Eismann von Annelinn“, sagt Jordi, und zeigt auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Ein sanierter Plattenbau, fünf Stockwerke, die Balkone zur Straße. Nach Eismann sieht es hier ganz und gar nicht aus. „3, 2, 1“, zählt Jordi runter, dann rufen wir: „Eiscreme!“. Ganz oben öffnet sich die Glasverkleidung, die den Balkon zum Wintergarten macht, eine Frau schaut runter, in der Hand: ein in rosa Plastik verpacktes Eis! Sie lässt es fallen, Jordi fängt, also fast.
War das Zufall? Die Geschichte vom Eismann ist wahr, der Rest – ist Teil von „Läbi Linna – Through the City“, ein als Stadtführung getarntes Theaterstück. Aufgeführt zwischen den Plattenbauten von Annelinn, von Schauspieler:innen, Bewohner:innen – und uns. Ich bin Teil der Gruppe, die Jordi durch Annelinn folgt.
„Setzt euch“, sagt Jordi einige Blöcke weiter und zeigt auf die Holzbank, die sich an einem Teich entlangwindet. Enten fahren auf dem Teich herum, unter einem Baum sitzt ein Vater mit seinen zwei Töchtern. Hinter dem Teich erheben sich zwei Wohnblöcke, manche Fenster sind gelb erleuchtet, manche weiß, in manchen blinkt es, andere sind dunkel. „In den beiden Häusern sind 360 Wohnungen“, sagt Jordi, „wenn in jeder Wohnung ungefähr drei Leute leben, sind das über 1.000 Menschen – allein hier.“
Wenn Annelinn eine Stadt wäre, es wäre die sechstgrößte Stadt Estlands. Fast 30.000 Menschen leben hier. Aber Annelinn ist ein Stadtteil von Tartu, der größte, erbaut Anfang der 70er. Wie eine Insel liegt er, eingefasst von Schnellstraßen, ausgestattet mit allem, was ein Stadtteil braucht: Wohnungen, fünf Schulen, Supermärkten. Das Einkaufszentrum heißt Eeden.
Man kann ein ganzes Leben in Tartu leben und niemals in Annelinn gewesen sein, wenn man nicht muss, oder Freunde dort hat. Verrückt, oder?
Jordi treibt uns an, weiter, weiter. Auf einer Bank sitzt eine Frau, zupft eine Kannel – eine Kastenzither, optisch hat es was von einer liegenden Harfe –, ein Mann klampft seine Gitarre. Alles keine Zufälle, aber es wirkt so. Was oder wer wohl hinter der nächsten Häuserecke auf uns wartet? Die Schauspieler:innen des Theaters Must Kast um Regisseurin Jaanika Tammaru machen Annelinn zu ihrer Bühne. Damit wir auf dieser Bühne nicht verloren gehen, bekam jede zu Beginn einen Schlüssel, schloss Annelinn symbolisch für sich auf. An einem roten Band baumelt der Schlüssel jetzt um meinen Hals. Schlüsselkind, das war ich früher auch.
Wir laufen durch den Stadtteil, rennen, schleichen. Wir rubbeln an einem alten Klettergerüst – „Rost ist der Geruch von Kindheit“, sagt Jordi – sollen uns Bälle zuwerfen und dabei Komplimente machen und spielen Schere, Stein, Papier in der Annelinn-Edition. Sie besteht aus den drei typischen Elementen Annelinns: Senioren – das Symbol ist eine Geste wie beim Enten füttern –, Möwen und Müll. In zwei Gruppen spielen wir gegeneinander, müssen die andere Gruppe fangen, wenn wir gewonnen haben. Und weglaufen, wenn wir verloren haben.
Wie die Kinder.
Zwei Stunden dauert diese sehr besondere Stadtführung, es gibt gleichzeitig Touren auf Estnisch, Englisch und Russisch, an einem Platz mitten in Annelinn treffen sich alle. „Das ist das ungebaute Kulturzentrum Annelinns“, sagt Jordi und fängt an zu tanzen. Fünf Schauspieler und 30 Kinder aus den örtlichen Schulen und Vereinen machen mit. Für einen Moment tuen alle so, als wäre dieser moosbewachsene Asphaltplatz zwischen den Häuserriegeln tatsächlich ein Kulturzentrum.
Mit Liebe auf die Umgebung, auf die Menschen zu schauen, auf die Möglichkeiten und versteckten Geschichten, das ist, was Läbi Linna vormachen will. Über ein halbes Jahr war Regisseurin Tammaru dafür in Annelinn unterwegs, hat Geschichten der Bewohner:innen gesammelt.
Annelinn ist bereits der vierte Tartuer Stadtteil, den Läbi Linna bespielt hat. Jetzt ziehen sie weiter: Anfang Oktober spielen sie, ebenfalls im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres, im estnisch-lettischen Grenzort Valga/Wałk, Tickets gibt es schon. Und danach – Trommelwirbel – zieht das Projekt nach Deutschland – nach Darmstadt. Unbedingt Hingehen!