„Als wir einmal am Morgen in das Gärtchen hinausliefen, fanden wir einen toten Frosch, der wohl in der Gartenpforte eingeklemmt worden war. Das war nun für uns ein trauriges Ereignis! […] Vom Fenster unserer Stadtwohnung aus hatten wir oft Beerdigungen vor der russischen Kathedrale gesehen, und unser Kindermädchen hatte uns zum Zusehen hingeführt. […] Es war daher naheliegend, daß wir beschlossen, der Frosch müßte richtig beerdigt werden. […]
Eine Papirosschachtel (Zigarettenschachtel) ließ sich beschaffen. Sie wurde mit Blättern und Wiesenblumen ausgelegt. Darauf wurde der Frosch gebettet, wobei uns fast übel wurde, denn er sah so halb zerquetscht recht unappetitlich aus. Dann wurde die geschlossene Schachtel auf unseren Spielkarren gelegt und im Garten unter dem Gesang „Bosko, Bosko“ (vom russischen Gospodi, o Herr) herumgefahren. Schließlich wurde die Schachtel im Garten begraben, ein kleiner Hügel aufgeworfen und mit Wiesenblumen geschmückt. Auch ein kleines Kreuz aus zwei Hölzchen durfte nicht fehlen. Meine Mutter entfernte es aber, als sie es sah. Dieses ging ihr zu weit.“
Mehr als einhundert Jahre ist diese Szene her, aufgeschrieben hat sie Oswald Hartge, 1895 in Dorpat geboren. Hartge wohnte damals mit seiner Familie in der Magazinstraße, heute Magasini, neben dem von Zeddelmann’schen Privatgymnasium, der Turnhalle des Deutschen Turnvereins aus rotem Backstein (heute ein Theater, ich stand gestern wieder davor), Resten der Stadtmauer. Hartge erzählt in „Auf des Lebens großer Waage“ von Spaziergängen im Botanischen Garten, gleich um die Ecke, von Streifzügen am Embachufer, davon, wie ihn seine Mutter zum Viktualien-, sein Vater zum Holzmarkt mitnahmen.
Er erzählt von seiner Kindheit. Von einer Gesellschaft, einer Stadt aus Kindersicht. Eine Perspektive, die es – vor allem in der Städteplanung – viel zu selten gibt.
Wie das Kinderleben vor mehr als einhundert Jahren in Tartu aussah, zeigen Schwarz-Weiß-Fotos: Kinder, die auf ankernden Schiffen rumturnen oder mit dem Schlitten den Domberg runterrasen, die Stadt ein großer Spielplatz. Die Fotos zeigen Kinder in weißem Spitzenkleid im Fotostudio oder barfuß auf der Straße, beim Mittagessen im Kindergarten oder auf dem heimischen Sofa, ein Buch in der Hand. Es gibt Schnappschüsse unterm Weihnachtsbaum und beim Spielen zwischen den Holzhäusern. Manchmal könnten die Gegensätze kaum größer sein.
Zu sehen sind die Fotos in Tartus erstem öffentlichen Kindergarten, 1907 eröffnet. Heute ein Museum. „The Art of Being a Child”, die Kunst, ein Kind zu sein, heißt die Ausstellung. Es geht ums Kindsein Anfang des 20. Jahrhunderts. Auch die Erinnerungen von Oswald Hartge lese ich hier. Ob er wusste, dass sich nur ein paar Straßen von seinem Kinderzimmer entfernt ganze Familien ein einziges Zimmer teilen müssen?
Auf den Straßen der Stadt sind erstmal alle gleich. Kinder eben. Sie streifen umher, lassen Steine übers Wasser hüpfen. „Auf der Straße wurden drei Sprachen gesprochen“, sagt Maarja Leedjärv, mit der ich durch die Ausstellung gehe. Estnisch, Russisch, Deutsch. Typisch seien die selbstgenähten Sachen gewesen, sagt sie, als wir vor einer Vitrine mit einer braunen Kinderhose stehen, deren Knie mit Aufnähern verstärkt sind – typisch estnisch.
Maarja leitet das Museum des Tartuer Stadtbürgers des 19. Jahrhundert, bereitet gerade eine Ausstellung zu deutschbaltischem Kinderspielzeug vor.
Das, was Oswald Hartge beschreibt, war nur für einen Teil der Kinder damals normal. So gibt es zwar estnische und deutsche Schulen in der Stadt, die deutschsprachigen aber gelten oft als die besseren.
„Die Gesellschaft ist damals eine Klassengesellschaft“, sagt Liisi Jääts, die ich kurze Zeit später treffe. Es habe eine klare Aufteilung in Oben und Unten gegeben. Adel, Geistliche, Akademiker – Hartges Vater war Arzt –, „das war die Elite“, sagt Liisi. Sie ist Kuratorin am Estnischen Nationalmuseum, das – super speziell – Geschichte rückwärts erzählt.
Das legendäre Interview Lennart Meris auf der Tallinner Flughafentoilette 1997 – er wollte nach einem Auslandsbesuch auf die Rückständigkeit des Flughafens hinweisen, der laut Meri an Sowjetzeiten erinnere – am Anfang der Dauerausstellung. Weiter hinten: Die Aufstände und Angriffe auf Herrenhäuser, Gutsbesitzer und Machthaber, der sogenannte Blutsonntag 1905. Erzählt anhand der Erinnerungen dreier Menschen, darunter Philosoph und Biologe Jakob Johann von Uexküll, ein Deutschbalte, dessen Gut ebenfalls angegriffen wird.
Bevor es soweit kommt, scheinen die Verhältnisse wie zementiert. „Der Großteil der estnischen Bevölkerung waren Bauern, Bauer und Este, die Begriffe wurden quasi synonym verwendet“, sagt Liisi. Unter den Reichen, Schönen, Mächtigen: viele Deutschbalten.
Ihre gesellschaftliche Stellung erklärt vielleicht, warum sich das Deutsche über die Jahrhunderte nicht abgeschliffen hat. Im Gegenteil, es wurde immer als selbstverständlich angesehen, teilweise extra betont. In Estland gab es in den lange ein Ringen darum, jahrhundertealte, deutschbaltische Kultur auch als Teil der estnischen Geschichte wahrzunehmen. Schade? Ja. Gleichzeitig verstehe ich das Zögern, spricht aus manchen deutschbaltischen Texten des 19. Jahrhunderts doch ein klassistischer Blick: von oben herab.
Im Tartuer Museum steige ich die gewundene Treppe ins Dachgeschoss hoch. An der Wand ein Foto, es zeigt die Stadt 1899: Steinhäuser auf der einen, Holzhäuser auf der anderen Flussseite. Hier die Altstadt, da die einfacheren Viertel. Eine Stadt, offen zwar, und doch von Klassengrenzen durchzogen.
„Innerhalb der Stadt waren Est:innen für die Versorgung zuständig“, sagt Maarja. Stadtreinigung, Beleuchtung, Lebensmittelverkauf auf dem Markt, zählt sie auf. Während Deutschbalten die Bürgermeister und lange Zeit die Stadtverwaltung stellen.
Für Kinder heißt das: Ein Haus mit Garten, ein eigenes Kinderzimmer, Sommerferien auf dem Land, wie es Oswald Hartge in seinen Erinnerungen beschreibt. Oder aber: Ein einziges Zimmer für die ganze Familie. 1922 leben 70 Prozent der Tartuer:innen auf so engem Raum.
Auf der einen Seite haben Kinder Zeit Bücher zu lesen, ein Instrument zu lernen. Auf der anderen schmeißen sie den Haushalt, den Gemüsegarten, füttern die Hühner, um die Familie zu unterstützen. Noch um 1930 soll es in Tartu in manchen Vierteln nach Schmierfett und Pferdemist gestunken haben, während die Altstadt nach Kaffee und Konditoreien duftete.
Gesellschaftlicher Aufstieg ist auch damals möglich. „Wer aufstieg, wurde Deutscher“, sagt Liisi. Ich schaue wie ein Auto. Aber so nennt man das damals wirklich: ‚Deutsch werden‘. Maarja erzählt mir unabhängig von Liisi genau das Gleiche, und fügt hinzu: Gemeint sei damit weniger die Nationalität, als die Gesellschaftsschicht. Die, die seit Jahrhunderten weiter oben steht – und deutsch (-baltisch) ist.
Die Sprache wechselt, das Auftreten, mitunter sogar der Name. Aus Jaan wird Johann.
Verrückt.
Es ist das Streben nach einem besseren Leben, das Nacheifern derer, die es vermeintlich geschafft haben. Ein Motiv, dass Menschen damals wie heute antreibt. Und trügerisch ist, weil es übersieht, wie sehr jahrhundertealte Machtstrukturen und soziale Herkunft mitbestimmen, wem der Aufstieg, das „bessere Leben“ wirklich gelingt.
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Die Ausstellung „The Art of Being a Child“ ist noch bis zum 26. Oktober im Liederfestmuseum zu sehen. Vielen Dank an Kristiina Tael-Annuk für die vielen historischen Fotos.
Oswald Hartge übrigens hat in den 1930ern, als das unabhängige Estland damit beschäftigt war alles zu bekämpfen, was vorher Macht und Einfluss hatte, ein Brettspiel entwickelt. Hartge hatte inzwischen selbst Kinder, wollte, dass sie estnische Geografie lernen, die deutschen Ortsnamen nicht vergessen. 100 Brettspiele „Rund um Estland“ ließ er produzieren, eines überlebte in der Familie. Enkel Alexander Hartge übergab es Anfang des Jahres dem Museum in Tartu.
„Ring ümber Eesti/Rund um Estland“ heißt auch die Ausstellung zu deutschbaltischem Kinderspielzeug, die am 27. September im Museum des Stadtbürgers des 19. Jahrhunderts eröffnet.
Titelbild: Kinder im Hafen in den 1930ern. Fotograf: Carl Sarap. Copyright Fotomuseum/ Stadtmuseum Tallinn