Am liebsten hängt der Chef vor dem Buchladen ab. Sein Lieblingsplatz: ein dunkelblauer, schon reichlich zerkratzter Sessel, auf dem ein grünes Kissen liegt. Karmen Otu streicht Johannes Gutenberg über den Kopf. Kein Event sei so leicht zu organisieren gewesen wie sein zehnter Geburtstag. Johannes ist der älteste Nutzer des Aparaaditehas – „unser Chef und Community-Manager“, sagt Karmen. Sie ist sowas wie seine Kollegin, zuständig fürs Marketing des Kreativzentrums. „Die beste Frage, um das Eis zu brechen, ist: Wer hat was von Johannes Gutenberg gehört?“, sagt Karmen und lacht, dass ihre Locken wackeln.
Der heimliche Chef vom Aparaaditehas ist ein schwarz-weißer Kater.
Und ein kleiner Star: Er war schon auf dem Cover des estnischen Haustiermagazins und im Lufthansa-Magazin. Fünf oder sechs Futternäpfe stehen für den Kater auf dem Gelände der einstigen Fabrik, das heute ein Kreativzentrum ist – und einer meiner absoluten Lieblingsorte.
Leckeres Essen, guter Kaffee, Fotoausstellungen, Musikquiz … und „alte Bekannte“: Die Haki-Galerie wird von dem Paar betrieben, das in Varnja auch die Voronja Galerii hat (im Blogeintrag über die Zwiebelstraße habe ich darüber geschrieben), die ukrainische Künstlerin Viktoria Berezina stellt hier aus, und Streetartist Kairo.
Am Wochenende feiert das Haus seinen 10. Geburtstag.
Karmen läuft mit mir über den Hof, vorbei an Cafés, Galerien, einem Sandkasten mit Minibagger und haushohen Graffiti. Kinder patschen in den Pfützen – die Landschaftsarchitekten haben diese Vertiefungen mitgeplant – über ihnen dreht sich eine Diskokugel.
In den 50er Jahren war die Apparaturenfabrik gebaut worden, bis zu 1.500 Menschen stellten Maschinenteile, Regenschirme, Dosenöffner und das erste sowjetische Taxameter her, wie die leicht verklärten Filme von 1954 und 1964 aus dem estnischen Filmarchiv zeigen. Das Gerücht, das alles habe nur der Ablenkung gedient, um heimlich Raketen- und U-Bootteile herzustellen, hält sich hartnäckig. Wahr ist: Teile der Produktion dienten tatsächlich militärischen Zwecken, weshalb die Fabrik nur Mitarbeiter:innen reinließ. Die aber stellten vor allem schnöde Alltagsgegenstände her.
Die Arbeitsbedingungen waren nicht die schlechtesten. Es gab eigene Ärzte, einen Frisör, eine Band, ein Volleyballteam und – einmalig in Estland – ein „Gesundheitszentrum“. Schwarz-weiß Fotos zeigen Arbeiter:innen in Liegestühlen, die auf eine Leinwand schauen. Dias von hübschen Landschaften sollten die Erholung fördern.
Die Sowjetunion zerbrach und mit ihr der Sinn der Fabrik. Investoren kauften das Gebäude, ein Klamottenhersteller hielt sich eine Weile, doch ein großer Teil stand leer. Um 2010 verloren zwei Kilometer stadteinwärts Künstler:innen ihr kreatives Zuhause, eine ehemalige Hefefabrik, sie wurde wegen Sicherheitsmängeln geschlossen. Kreative ohne Ateliers auf der einen, eine leere Fabrik auf der anderen Seite – die Idee fürs Aparaaditehas war geboren. Als erstes zog das Druck- und Papiermuseum TYPA ein, zu deren Team auch ein Kater gehörte: Johannes Gutenberg.
Karmen steigt die Treppe im mittleren Gebäudeteil hoch, Johannes schaut als Foto von der Wand. Saniert wurde nur das Wichtigste, erzählt sie. Die Gestaltung übernahmen die Künstler:innen. „Be brave“, sei mutig, steht an der Wand, daneben ein russisches Schild. Ansonsten erinnert nicht mehr viel an sowjetische Fabrikzeiten. Das Meiste wurde zerstört oder verkauft. Nur in einem Treppenaufgang hängt noch ein Original: ein raumhohes Bild, Kosmonauten, die einer knallbunten Zukunft entgegenfliegen. Träumereien der Vergangenheit.
Das Haus gehört auch heute einer Gruppe Investoren, die NGO, für die Karmen arbeitet, kuratiert die 14.000 Quadratmeter. Passt der Laden zur bestehenden Mischung, die Künstlerin zu unseren Ideen und Zielen? Karmen schätzt, dass aktuell 400 bis 500 Menschen im Aparaaditehas arbeiten.
Verrückt eigentlich, dass viele Leute anfangs nicht ans Aparaaditehas glaubten. Ab vom Schuss, war das häufigste Argument. Anderthalb Kilometer sind es bis zum Rathaus, alles fand damals in der Altstadt statt. „In den zehn Jahren haben wir die Karte von Tartu verändert“, sagt Karmen. Innenstadt ist jetzt auch hier.
Einer, der hier ein kreatives Zuhause fand, ist Artur. Er bedruckt an einer Maschine, die mit ihren vielen Armen an einen metallischen Tintenfisch erinnert, T-Shirts und Hoodies. Tallinn sei nicht so freundlich, sagt Artur, der vor ein paar Jahren vor der Wahl stand. Zu hektisch, entschied er. „Tartu ist ruhiger, sogar die Leute laufen hier langsamer“, sagt er.
Tallinn versus Tartu, ein Vergleich, den ich inzwischen oft gehört habe. Politik und Business versus Kultur, Wissenschaft, Lebensqualität.
Wir sind auf der Dachterrasse angekommen. In der Mitte Hochbeete, links ein Seminarraum, wo früher die Heizung rödelte, rechts, wo der einstige Fahrstuhlschacht aus dem Dach ragt, eine Sauna. Drumrum: Autoschraubereien, eine Tanzschule, eine Schuhfabrik. Ein paar Wohnungsvermieter würden inzwischen mit der Nähe zum Aparaaditehas werben, sagt Karmen, „aber nur in zwei Straßen.“ Angst vor Gentrifizierung hat sie nicht. Selbst in den Restaurants auf dem Rathausplatz – anderswo überteuerte Touri-Fallen – gehen in Tartu die Locals essen.
Ich schaue vom Dach in den Hof mit der Diskokugel. Was ist hinter den Fenstern über der Pizzeria? Ein Raum für Kinder, eine Art Spielhaus, sagt Karmen. Im Erdgeschoss sind die öffentlichen Einrichtungen: Restaurants, eine Destille, sieben Galerien, darüber die weniger öffentlichen: Büros, zwei Yogaschulen, eine Kunstschule, Ateliers. Und ein Coworking-Space „Estnischer Art“, sagt Karmen. Gemeinschaftsküche, Sofas – und Mini-Büros, bei denen man die Tür zumachen kann. Sie muss lachen, Klischee und Realität liegen manchmal nah beieinander.
Aber wie geht’s eigentlich Johannes Gutenberg? Einmal, erzählt Karmen, sollte der Kater geimpft werden, nur blicken ließ er sich nirgends. Einfangen? Keine Chance. Irgendwann habe die Tierarztpraxis – es gibt passenderweise eine im Haus – angerufen: Der Chef war selbst vorbeigekommen.
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Tipp No. 1: Die Galerie „Karud ja Pojad“, die im Hof versteckt zwischen veganem Burgerladen und Café liegt, zeigt gerade eine Ausstellung zur Schönheit des Alltags.
Tipp No. 2: Ein paar Schritte vom Aparaaditehas liegt eines meiner Lieblingscafés, „Plantarium by Jardin“. Hauptberuflich ein Pflanzencenter, stehen mittendrin Sessel und Sofas für einen Kaffee zwischen Topfpflanzen.
Hallo Katrin,
Wieder ein toller Bericht.
Man bekomnt richtig Lust dorthin zu reisen und sich das alles anzuschauen.
Aber ich finde es schön, dass diese Leere Fabrik so toll genutzt wird !!
Freue mich schon,über den nächsten Artikel.
Lg
S. B.
Danke für das schöne Feedback. Die Reise hierher lohnt sich in jedem Fall 🙂