Früher seien sich die Grenzer gegenseitig besuchen gefahren, erzählt Marco, der Kapitän. Die russischen kamen zum Wodkatrinken, die estnischen fuhren für Schnaps und Sauna rüber. Ein versehentlicher Grenzübertritt auf dem See? Habe früher einen Anruf gekostet, heute werde die gesamte diplomatische Maschinerie in Gang gesetzt.
Früher, das war, bevor Russland die Ukraine überfallen hat. Früher, das ist ein Wort, das ich oft höre, wenn ich mit Menschen über den Emajõgi, den Peipussee, die Grenze spreche.
Und was, wenn man die Bojen übersieht, auf die falsche Seite des Sees kommt? An manchen Stellen ist das Wasser extrem flach, die Fahrrinne eng. Eine Woche Gefängnis, sagt Marco, und, nach einer Pause: Das will man nicht.
Ich stehe neben Marco in der Fahrerkabine, er lenkt die M/L Alfa den Emajõgi stromabwärts. Marco trägt Sonnenbrille, überm Bauch dehnt sich sein Hemd, der vorletzte Knopf fehlt. Ausflügler zum Peipussee schippern ist sein Sommerjob.
Der Emajõgi, oder deutsch Embach, niederdeutsch Embeke, määndert in einem breiten Urstromtal spannungslos dahin. Alle paar Kilometer sitzen an diesem Sommersonntag Angler an seinem Ufer. Die Ufer sind knallgrün und sumpfig, für Anlegestellen oder Bebauung ungeeignet. Festen Boden bis ans Ufer gibt es nur da, wo heute Tartu steht. Im Osten Estlands war diese Stelle früher die einzige durchgehend nutzbare Verbindung zwischen Nord und Süd.
Der Fluss selbst war bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine wichtige Verkehrsader. In Richtung Osten, über den Peipussee, fuhren hölzerne Cargoschiffe bis nach Narwa und ins russische Pskow, nach Westen bis zum Võrtsjärv, dem anderen großen estnischen See. Am Hafen in Tartu luden sie ihre Waren ab. Geplant gewesen sei sogar mal eine Wasserstraße bis zur Ostsee, doch dazu kam es nie.
16 Knoten zeigt der Bildschirm, der neben Marco von der Decke hängt. Die Kapitänsmütze klemmt hinter der Windschutzscheibe. Marco lenkt das Steuerrad kurz mal mit den Knien, er liebt raue See, Wind und Wellen. Der Emajõgi ist spiegelglatt. Seit fünf Jahren fahre er zur See, erzählt Marco. Er war auf Eisbrechern unterwegs, auf Grenzpatrouille, zuletzt an Bord eines Schiffes, das Taucher zum Wrack der „Estonia“ hinabließ. Die Fähre war 1994 in der Ostsee gesunken, 852 Menschen auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm gestorben. Das größte Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die Ursache ist bis heute nicht ganz klar.
Mich schreckt das nicht ab. Wasser, Schiffe, das Meer, das alles hat eine Sogwirkung, die ich nicht wirklich erklären kann. Ich war auf dem Emajõgi Kanu fahren, dem Sonnenuntergang entgegen, ich war im Emajõgi schwimmen, Tartu hat zwei Strände, an jeder Flusseite einen. Eine Bootsfahrt fehlte noch.
Nach fast drei Stunden nähern wir uns der Flussmündung. Der Peipussee wird groß und größer. Marco drosselt das Tempo. 14 Knoten, 13, 12. Der See ist flach, an manchen Stellen wackeln Inseln aus Schilf im Wasser. Für Schiffe wie dieses bleibt nur eine schmale Fahrrinne. Ein halber Meter Wasser ist gerade unterm Schiff, Marco zeigt es mit den Händen. Selbst in der Mitte ist der See – immerhin der fünftgrößte Europas – nur zehn Meter tief.
Früher seien die Grenzboote schonmal über die Seegrenze ausgewichen, um noch fahren zu können, sagt Marco. Heute ist das undenkbar.