Stromabwärts

Früher seien sich die Grenzer gegenseitig besuchen gefahren, erzählt Marco, der Kapitän. Die russischen kamen zum Wodkatrinken, die estnischen fuhren für Schnaps und Sauna rüber. Ein versehentlicher Grenzübertritt auf dem See? Habe früher einen Anruf gekostet, heute werde die gesamte diplomatische Maschinerie in Gang gesetzt.

Früher, das war, bevor Russland die Ukraine überfallen hat. Früher, das ist ein Wort, das ich oft höre, wenn ich mit Menschen über den Emajõgi, den Peipussee, die Grenze spreche.

Und was, wenn man die Bojen übersieht, auf die falsche Seite des Sees kommt? An manchen Stellen ist das Wasser extrem flach, die Fahrrinne eng. Eine Woche Gefängnis, sagt Marco, und, nach einer Pause: Das will man nicht.

Ich stehe neben Marco in der Fahrerkabine, er lenkt die M/L Alfa den Emajõgi stromabwärts. Marco trägt Sonnenbrille, überm Bauch dehnt sich sein Hemd, der vorletzte Knopf fehlt. Ausflügler zum Peipussee schippern ist sein Sommerjob.

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Die Zwiebelstraße

Wer dem Kulturforum auf Social Media folgt, hat es schon gesehen: Vergangene Woche war ein Filmteam aus Potsdam in Tartu. In der Hauptrolle: die Stadt – und ich. Eine ziemlich ungewohnte Situation. Ich habe vor vielen Jahren mal als Komparsin bei TV-Produktionen mitgespielt, allerdings geschminkt und verkleidet, ohne Text und nur im Hintergrund. Nun also groß und in Farbe, moderieren, Interview geben, Interviews führen, Protagonistinnen treffen – es sollte ja ein echter Einblick in die Arbeit als Stadtschreiberin sein. Ich bin schon gespannt auf das Ergebnis, fertig soll der Film im Herbst sein.

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Fünf Tage, sechs Züge

Draußen, vor dem Zugfenster, ziehen gelbe Felder, grüne Wiesen und braune Äcker vorbei. Holzkirchen, Windräder, Häuser wie in die Landschaft gewürfelt. Drinnen klopft der Koch auf einem Schnitzel herum, während ich meine Piroggi auf die Gabel spieße. Gut fünfeinhalb Stunden braucht der Berlin-Warschau-Express. Es ist der erste Tag.

Ich will nicht schnell irgendwohin, ich will reisen. 1.800 Kilometer von Berlin nach Tartu. Sechs Züge, fünf Tage, vier Landesgrenzen und eine Zeitzone.

17.30 Uhr, Warszawa Centralna, Sowjetschick inmitten von Hochhaustürmen. Ein kurzer Spaziergang, Hotel am Bahnhof, am nächsten Morgen stehe ich um 7.30 Uhr wieder an Gleis 2.

Im Abteil schnarcht ein Mann mit offenem Mund. Ich setze mich ans Fenster, mir gegenüber packen Vater und Tochter ihr Frühstück aus. Saulé ist Sieben, sie war bei den Großeltern in Warschau, fährt jetzt zurück nach Hause, nach Vilnius, erzählt sie.

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