Dicht und dick hängt der Nebel morgens in den Straßen, macht die Welt klein, hüllt sie ein, wie ich mich in meine Decke. Draußen klappen die Tartuerinnen ihre Kragen nach oben, immer öfter sehe ich jetzt Handschuhe, Mützen, dicke Jacken, rieche die schwere Luft, wenn in den Häusern die Kamine befeuert werden. Es ist Herbst geworden.
Jeden Tag steht die Sonne ein bisschen tiefer, verfärben sich die Blätter rot und gelb und braun. Die Nächte? Längst wieder pechschwarz. Mehr als fünf Monate sind vergangen, seit ich in Tartu aus dem Zug gestiegen bin.
Zeit, zurückzublicken. Zeit, Abschied zu nehmen.
Ich habe gelernt, wie man einen Blumenkranz bindet, Brot bäckt, wie wichtig der Johannistag ist. Dass Esten gerne singen. Ich bin mit Mücken wandern und in der Stadt auf Spurensuche gegangen, habe mit Bürgermeister Urmas Klaas über Krieg und Frieden gesprochen. Themen, die mich vom ersten Tag an begleiteten. Ich habe verstanden, warum sich manche Estinnen Gedanken über ein Was-wäre-wenn machen, warum die Solidarität mit der Ukraine so groß, und das Verhältnis zu Russland ambivalent ist.
Ich weiß jetzt, warum überall herrschaftliche Gutshäuser in der Landschaft stehen und wie sehr Deutsch vor 150 Jahren Teil des estnischen Alltags war. Dass tund vom deutschen Stunde kommt und rand von Strand.
Deutsche Sprüche im Karzer, der Arrestzelle der Universität, Deutsch in Akten, Zeitungen und einem Kirchenbuch von 1692. Trotzdem überrascht es mich immer wieder.
Vor einer Woche stand ich in einer Kloschlange. An der Wand gegenüber hing Werbung, Schwarz-Weiß, eingerahmt. Ich las: Bier aus Dorpat, Bockbier, Märzen. Es dauerte zwei Sekunden, bis ich begriff: Ich lese gerade deutsche Bierwerbung. Mehr als hundert Jahre alt.
Deutsch-estnische Geschichte, auf einem Kneipenklo.
Fünf Monate, in denen viel und vieles gleichzeitig passiert ist. Manchmal kam ich mit dem Schreiben kaum hinterher. So viele Menschen, die ich noch nicht getroffen, so viele Geschichten, die ich noch nicht erzählt habe. Von einer Künstlerin, die Streetart macht, von Stadtplanung und Saunakultur, von Panzern in der Fußgängerzone und introvertierten Menschen in Bars. Meine Liste mit Ideen würde locker für einen weiteren Sommer reichen. Aber meine Zeit als Stadtschreiberin ist zu Ende.
Estland, hatte jemand zu Beginn gesagt, sei bunt wie Osteuropa, und minimalistisch wie Skandinavien.
Eine Mischung aus Zwiebelkuchen und Zimtschnecken. Und noch viel mehr.
In Tartu habe ich mich schon persönlich verabschiedet, mit einer letzten Lesung im Deutschen Kulturinstitut. Nun verabschiede ich mich auch an dieser Stelle – und sage Danke. Danke fürs Lesen dieses Blogs, Danke fürs Kommentieren, Fragen stellen, Feedback teilen. Danke für die Möglichkeit, meine Reise auf diese Art mit Euch zu teilen und Danke an alle, die mir Türen geöffnet und Blicke hinter die Kulissen ermöglicht haben.
Mir hats unheimlich viel Spaß gemacht.
Tšau, wie man in Tartu sagt, und auf bald!
P.S.: Auf den Bildern diesmal: Feinster Catcontent aus der Katzen- äh Kulturhauptstadt 2024 🙂
Liebe Katrin,
Das ist sehr sehr schade, dass ihre Zeit als Stadtschreiberin in Dorpat zu Ende geht.
Wir haben viel aus ihren Berichten gelernt .!!
Ich persönlich, werde ihre interessanten Berichte vermissen.
Ich wünsche ihnen für die Zukunft alles Gute.
Lg
Sabine
Danke fürs wiederholt sehr liebe Feedback! Mir hat diese Reise großen Spaß gemacht, und wenn das auch so rüber kam, bin ich sehr glücklich.