Wie plant man ein Kulturhauptstadtjahr, Kati Torp?

Knapp drei Jahre bevor das Kulturhauptstadtjahr tatsächlich begann, steckte Kati Torp schon mittendrin. Plante, sprach mit Künstlerinnen, feilte am Programm. Kati Torp ist die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt. Sie hat Kunstgeschichte studiert, am Kunstmuseum KUMU in Tallinn als Kuratorin für zeitgenössische Kunst gearbeitet, 2017 den estnischen Pavillon für die Biennale in Venedig kuratiert.

Für das Gespräch treffe ich sie am Rathausplatz in einem Altbau, unten rosa, oben weiß gestrichen, „Tartu 2024“ ist auf die Wand gepinselt. Die Organisationszentrale der Kulturhauptstadt liegt im ersten Stock, der Meetingraum ist mit Aufstellern und Postern voll, pink und türkis, die Farben des Jahres. Man blickt von hier auf den Brunnen mit den küssenden Studenten, den Rathausplatz, die ganz großen Events.

Ist es anstrengend, ein Jahr Kulturhauptstadt zu organisieren?

Kati Torp: Es war eine sehr intensive Zeit. Und eine lange Reise über die drei Jahre. Die ganze Organisation war anstrengend, aber lohnend. Ich bin sehr dankbar für das, was jetzt passiert.

„Arts of Survival“, das Jahresmotto, hat sich in den drei Jahren stark verändert.

Als es geschrieben wurde, ging es um Fähigkeiten, um Wissen und Werte, und die Frage: Was braucht es, um ein gutes Leben zu führen? Es sollte um drängende Fragen der Zeit gehen. Die ökologische Krise, deren Auswirkungen auf die Umwelt, aber auch auf die Kultur, das Zusammenleben. Und die Frage, wie man als kleines Land überlebt, wie eine Sprache mit gerademal einer Million Sprecher:innen überleben kann.

Dann kam eine Pandemie, der Überfall Russlands auf die Ukraine …

Diese Krisen haben der ursprünglichen Idee weitere Schichten hinzugefügt. Über Covid sprechen wir kaum noch. Aber der Krieg in der Ukraine ist etwas, über das wir in Estland jeden Tag nachdenken. Es gibt viele ukrainische Geflüchtete, deshalb war eine der Fragen, wie wir deren Stimmen einbinden können. Wie können wir über die Ukraine sprechen, ohne die Kriegssituation zu instrumentalisieren? Was können wir tun, um sie zu ermutigen und gute Begleiter zu sein?

… und?

Es gab offene Aufrufe, auf die sich lokale Gruppen bewerben konnten. Manche Projekte kamen direkt aus der ukrainischen Community, wie das „Kaleidoskop der Gefühle“. Außerdem haben wir mit ukrainischen Filmemachern ein Filmfestival organisiert, am Jahrestag des Kriegsbeginnes. Russland marschierte am estnischen Unabhängigkeitstag in die Ukraine ein, es war also zweifach symbolisch.

Aber es gibt noch mehr Krisen, die palästinensisch-israelische Krise zum Beispiel. Wir hätten das Konzept ändern können, aber wir haben uns entschieden dabei zu bleiben. Überleben ist etwas, das sehr, sehr komplex ist. Es ist mehr als die Frage, woher ich Essen bekomme.

Sprechen Sie mit Freundinnen und Familie über den Krieg?

Ich glaube, das tun wir alle. Putin hat gesagt, die baltischen Staaten sind die nächsten. Ich hoffe, dass es nicht so weit kommen wird, aber wir sprechen auch über mögliche Optionen. Was würden wir tun, wenn Russland in Estland einfällt? Es geht aber auch darum, wie wir die Ukraine wieder aufbauen. Und dann sind da noch die enorme Inflation und Änderungen im Steuersystem, die diskutiert werden [Anm: u.a. eine temporäre Kriegssteuer].

Zurück zur Kultur. Ich frage Kati Torp nach ihrem Lieblingsort. In Tartu ist es ein Café neben dem Rathaus, Karlova Kohv. „Ich liebe Kaffee“, sagt Kati Torp. Kulturell gesehen liegt ihr Favorit eine Dreiviertelstunde südlich von Tartu, nahe der Kleinstadt Otepää. Maajaam ist eine Art Bauernhof für Kunst und Technik – so jedenfalls die Selbstbeschreibung. „Ein ganz besonderer Ort“, sagt Kati Torp, „sie nutzen ausgeklügelte Technik, um Kunstwerke zu schaffen.“ Ein Sinnbild für Estland, irgendwie. Oder wie Kati Torp sagt: „digital fortschrittlich, aber buchstäblich mitten im Nirgendwo.“

Estland steht in Deutschland oft für Digitalisierung. Ist es das, was das Land ausmacht?

Estland hat eine Art doppelte Identität. Esten waren die letzten, die christianisiert wurden, sie waren daher immer sehr fortschrittlich. Wir sehen uns aber auch als „Wald-Menschen“, viele haben eine enge Verbindung zur Natur, zur Umwelt, zum Wald. Diese zwei Narrative prägen uns, aber Identität ist natürlich komplexer. Allein in Südestland werden fünf verschiedene Sprachen gesprochen – und ich meine nicht Englisch oder Russisch, sondern lokale, einheimische Sprachen. [Anm.: Gemeint sind Seto, Võro, Mulgi, Tartu sowie Südestnisch, die Abgrenzung Sprache/Dialekt ist nicht eindeutig.] Menschen an diesen kleineren Orten haben ein anderes Zugehörigkeitsgefühl. Sie fühlen sich nicht unbedingt europäisch. Auch wenn sie genauso zu Europa gehören.

… und genauso Teil der Kulturhauptstadtregion sind. Gab es große Stadt-Land-Konflikte?

Wir haben versucht, für jede Kommune ein eigenes Kulturhauptstadtprogramm zu organisieren. Aber 19 Kommunen, das sind 19 unterschiedliche Beziehungen. Und die Kommunen sind sehr verschieden: Manche haben keinen Veranstaltungsort, oder nur sehr spezielle. Manche hält eine einzige Person am Laufen – was, wenn die wegbricht? Wir mussten genau schauen, was möglich ist. Oft gab es an kleineren Orten aber umso mehr helfende Hände.

Das Programm ist bunt und vielfältig, soll Kulturen und Generationen verbinden. Nur ein Thema findet kaum statt: die deutsch-baltische Geschichte. Ein Versehen?

Die baltisch-deutsche Geschichte ist stark vertreten in der Stadt. Nicht so sehr in unserem Programm, da steht sie etwas abseits – weil sie in quasi jedem Museum zu finden ist.

Und was sollte ich mir unbedingt noch anschauen?

Ryoji Ikedas Soloausstellung. Der japanische Komponist und Künstler verbindet Kunst und Wissenschaft zu audiovisuellen Installationen. Ich habe schon früher mit ihm zusammengearbeitet und konnte seine Installation „Supersymmetry“ zeigen, die bei seinem Aufenthalt am CERN, dem Labor für Teilchenphysik, entstand. Es war überwältigend schön. Wir haben ihn nach Tartu eingeladen, um mit der estnischen Biobank zusammenzuarbeiten, die estnische DNA sammelt.

Die Ausstellung von Ryoji Ikeda öffnet am 2. November und ist bis zum 25. März 2025 im Estnischen Nationalmuseum zu sehen.

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