Vor dem Krieg war ich: Happy
Jetzt bin ich: trauriges Smiley
Zwei Pinnwände, zwei Satzanfänge, darunter Zettel, auf denen jede und jeder ergänzen kann, was sie oder er gerade fühlt. Vor dem Krieg habe ich in einer Bank gearbeitet, hat jemand geschrieben. Und daneben: Jetzt habe ich keinen Job, mache mir Sorgen um meine Familie in Kyjiw, habe Angst.
Plötzlich wird das Kulturhauptstadt-Motto brutal real. Arts of Survival, Überlebenskünste.
Die Pinnwände gehören zu einem Projekt der ukrainischen Community in Tartu, etwa 3.000 Ukrainer:innen leben derzeit in der Stadt. Auch ihre Kultur ist Thema in diesem Jahr.
Neben den Pinnwänden steht eine Frau an einem Tisch, auf dem sich Zeitschriften, Scheren und Schnipsel stapeln. Sie fragt, ob ich mitmachen will, Collagen basteln. Viktoria Berezina ist Künstlerin, Kuratorin, Grafikdesignerin, sie kam vor knapp zwei Jahren nach Tartu. Sieben Monate hatten sie in Cherson ausgeharrt, ehe sie mit Mann und Bruder die Ukraine verließ.
Viktoria spricht leise, behutsam, als könnten die falschen Worte alles zerbrechen. Auf dem Handy zeigt sie mir Bilder von einer Bushaltestelle. Ein schnödes Wartehäuschen aus Stein, Viktoria hat es in ein Kunstwerk verwandelt. Knallrote Beeren, orange Blüten, leuchtend grüne Blätter, Petrykiwka heißt die ukrainische Maltechnik, die ich von Holzgeschirr kenne. Fünf Tage hat Viktoria daran gemalt, die Haltestelle liegt eine knappe Autostunde entfernt in Elva. „Jetzt ist ein Stück von Zuhause in Estland“, sagt sie und lächelt.
Der Wind weht ein paar Schnipsel vom Tisch auf die Straße, auf der wir während des Gesprächs umherlaufen. Die sonst so vielbefahrene Vabaduse puiestee, die die Altstadt vom Emajõgi, den Rathausplatz von der Bogenbrücke trennt, ist seit fünf Wochen gesperrt. Statt Autos jagen Kinder umher, quieken, wenn sie durch die Sprühnebel-Station rennen. Es gibt eine Tischtennisplatte, Hängematten, eine Bühne, einen Wasserspielplatz, Liegestühle, Pflanzen. Eine Trinkwasser-Station und Toiletten, alles kostenlos. Den ganzen Sommer lang.
Familien spazieren, wo sonst Autos brettern.
Und mitten auf der Straße: ein Holzgestell, auf das ein riesiges Netz gespannt ist. „Kaleidoskop der Emotionen“ heißt das Projekt, an dem Viktoria mit anderen Ukrainer:innen gearbeitet hat. Seit 2023 trafen sie sich und sprachen, angeleitet von einer Psychologin, über ihre Gefühle. Wie ist es, in einem sicheren Land zu leben, wenn zuhause Krieg tobt? Wie baut man sich einen neuen Alltag auf? Wie hält man Angst und Sorgen aus? Was macht ihnen Mut? Für jede Emotion haben sie farbige Stoffstücke in das Netz geknotet. Helle Farben: positive Gefühle, dunkle Farben: negative.
Eine Hälfte steht für die Ukraine, die Stoffe sind schwarz, blau, dunkelrot. Zwischendrin: helle Hoffnungsschimmer. Der Teil, der sich auf Estland bezieht, ist bunter, heller. Dazwischen hängen kleine Collagen. Das Kunstprojekt macht sichtbar, was sonst oft verborgen bleibt. Trauer, Wut, Angst, ein Gefühl von Sicherheit, Hoffnung.
Hilft es, wenn man Ängste und Zweifel künstlerisch verarbeiten kann?
Viktoria nickt. Um den Hals trägt sie eine Kette, sie hat etwas von einer Friedenstaube, eine Freundin hat sie gemacht. Kunst ist Viktorias Art zu kommunizieren, tiefer und aufrichtiger, als sie es mit Worten könne, sagt sie. Gerade ist ein Teil ihrer Werke im Kunstmuseum der Universität zu sehen. Und dahin gehe ich jetzt.
„Wandering in the storms oft the world“ heißt die Ausstellung. Der Untertitel: Art created in the shadows of war: Geislingen 1944 – Tartu 2024. Der Bogen reicht von geflüchteten Ukrainer:innen, die in Tartu ein Zuhause fanden, hinzu Est:innen, die während des Zweiten Weltkriegs flohen. The Great Escape, die große Flucht, nennen sie es. Allein 50.000 Est:innen flohen damals nach Deutschland. Viele landeten in Aufnahmelagern – das größte entstand mit rund 5.000 Menschen in Geislingen an der Steige, einer kleinen Stadt südöstlich von Stuttgart.
Fotos in Schwarz-weiß zeigen das Leben dort, Warten auf gepackten Koffern, Anstehen nach Suppe, Feldbetten. Trotz widriger Umstände bildeten sich Chöre, ein Orchester, eine Theatergruppe, es gab ein kleines estnisches Krankenhaus, Kindergärten, eine Sauna, eine Zeitung, Kunst- und Wirtschaftskurse.
Im Dezember 1945 organisierten fünf estnische Künstler:innen eine Ausstellung im Camp, darunter Endel Kõks aus Tartu. Schon als Student galt er als Vertreter moderner Kunst, war Teil des „Tartu Trio“, in Geislingen leitete er Malkurse, wurde einer der wichtigsten Figuren estnischen Kunstlebens. Es sind dunkle Bilder, die in Geislingen entstanden, eines zeigt eine Mutter, die ihre Arme um zwei Kinder legt. In der estnischen Kunstgeschichte steht Endel Kõks Werk für Freiheit und Moderne, heißt es in der Ausstellung.
Im Raum nebenan hängen die Bilder ukrainischer Künstlerinnen. „Ukraine ist so nah“ heißt eines, „Eine Erinnerung lebt wie ein Vogel“ ein anderes. Viktoria beschäftigt sich vor allem mit der Leere, die der Krieg hinterlässt, ihre Collagen zeigen Menschen mit gebeugtem Rücken, Raben, konkret und abstrakt, alles verbindet sich.
Endel Kõks ging, als das Camp in Geislingen 1950 geschlossen wurde, nach Schweden. Wo Viktoria Berezina mal leben wird? Ob sie in Tartu bleibt? Eines ihrer Werke heißt: Nach Hause gehen.
Ein Gedanke zu „In den Stürmen der Welt“