Deutsche Sprache, schwere Sprache

„Kannst du mir ein Obst sagen?“

„Die Trauben“, sagt ein Junge, und rollt dabei das R.

„Apfel“, sagt ein Mädchen in der letzten Reihe.

„Mit Artikel“

„Das … die …“, sucht das Mädchen nach der Lösung.

„Die Orange, die Birne, die Erdbeere, aber der Apfel. Warum? Keine Ahnung“, sagt Heidi Rajamäe-Volmer und zuckt mit den Schultern.

Deutsche Sprache, schwere Sprache, steht auf einem Blatt Papier an der Wand, darunter Bilder von Eierkuchen, Kartoffelsalat und Erbsensuppe. Rezepte in wackeliger Kinderschrift, neben einer Deutschlandkarte.

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Die Stadt aus Kindersicht

„Als wir einmal am Morgen in das Gärtchen hinausliefen, fanden wir einen toten Frosch, der wohl in der Gartenpforte eingeklemmt worden war. Das war nun für uns ein trauriges Ereignis! […] Vom Fenster unserer Stadtwohnung aus hatten wir oft Beerdigungen vor der russischen Kathedrale gesehen, und unser Kindermädchen hatte uns zum Zusehen hingeführt. […] Es war daher naheliegend, daß wir beschlossen, der Frosch müßte richtig beerdigt werden. […]

Eine Papirosschachtel (Zigarettenschachtel) ließ sich beschaffen. Sie wurde mit Blättern und Wiesenblumen ausgelegt. Darauf wurde der Frosch gebettet, wobei uns fast übel wurde, denn er sah so halb zerquetscht recht unappetitlich aus. Dann wurde die geschlossene Schachtel auf unseren Spielkarren gelegt und im Garten unter dem Gesang „Bosko, Bosko“ (vom russischen Gospodi, o Herr) herumgefahren. Schließlich wurde die Schachtel im Garten begraben, ein kleiner Hügel aufgeworfen und mit Wiesenblumen geschmückt. Auch ein kleines Kreuz aus zwei Hölzchen durfte nicht fehlen. Meine Mutter entfernte es aber, als sie es sah. Dieses ging ihr zu weit.“

Mehr als einhundert Jahre ist diese Szene her, aufgeschrieben hat sie Oswald Hartge, 1895 in Dorpat geboren. Hartge wohnte damals mit seiner Familie in der Magazinstraße, heute Magasini, neben dem von Zeddelmann’schen Privatgymnasium, der Turnhalle des Deutschen Turnvereins aus rotem Backstein (heute ein Theater, ich stand gestern wieder davor), Resten der Stadtmauer. Hartge erzählt in „Auf des Lebens großer Waage“ von Spaziergängen im Botanischen Garten, gleich um die Ecke, von Streifzügen am Embachufer, davon, wie ihn seine Mutter zum Viktualien-, sein Vater zum Holzmarkt mitnahmen.

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Wie plant man ein Kulturhauptstadtjahr, Kati Torp?

Knapp drei Jahre bevor das Kulturhauptstadtjahr tatsächlich begann, steckte Kati Torp schon mittendrin. Plante, sprach mit Künstlerinnen, feilte am Programm. Kati Torp ist die künstlerische Leiterin der Kulturhauptstadt. Sie hat Kunstgeschichte studiert, am Kunstmuseum KUMU in Tallinn als Kuratorin für zeitgenössische Kunst gearbeitet, 2017 den estnischen Pavillon für die Biennale in Venedig kuratiert.

Für das Gespräch treffe ich sie am Rathausplatz in einem Altbau, unten rosa, oben weiß gestrichen, „Tartu 2024“ ist auf die Wand gepinselt. Die Organisationszentrale der Kulturhauptstadt liegt im ersten Stock, der Meetingraum ist mit Aufstellern und Postern voll, pink und türkis, die Farben des Jahres. Man blickt von hier auf den Brunnen mit den küssenden Studenten, den Rathausplatz, die ganz großen Events.

Ist es anstrengend, ein Jahr Kulturhauptstadt zu organisieren?

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Stromabwärts

Früher seien sich die Grenzer gegenseitig besuchen gefahren, erzählt Marco, der Kapitän. Die russischen kamen zum Wodkatrinken, die estnischen fuhren für Schnaps und Sauna rüber. Ein versehentlicher Grenzübertritt auf dem See? Habe früher einen Anruf gekostet, heute werde die gesamte diplomatische Maschinerie in Gang gesetzt.

Früher, das war, bevor Russland die Ukraine überfallen hat. Früher, das ist ein Wort, das ich oft höre, wenn ich mit Menschen über den Emajõgi, den Peipussee, die Grenze spreche.

Und was, wenn man die Bojen übersieht, auf die falsche Seite des Sees kommt? An manchen Stellen ist das Wasser extrem flach, die Fahrrinne eng. Eine Woche Gefängnis, sagt Marco, und, nach einer Pause: Das will man nicht.

Ich stehe neben Marco in der Fahrerkabine, er lenkt die M/L Alfa den Emajõgi stromabwärts. Marco trägt Sonnenbrille, überm Bauch dehnt sich sein Hemd, der vorletzte Knopf fehlt. Ausflügler zum Peipussee schippern ist sein Sommerjob.

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Johannes Gutenberg geht impfen

Am liebsten hängt der Chef vor dem Buchladen ab. Sein Lieblingsplatz: ein dunkelblauer, schon reichlich zerkratzter Sessel, auf dem ein grünes Kissen liegt. Karmen Otu streicht Johannes Gutenberg über den Kopf. Kein Event sei so leicht zu organisieren gewesen wie sein zehnter Geburtstag. Johannes ist der älteste Nutzer des Aparaaditehas – „unser Chef und Community-Manager“, sagt Karmen. Sie ist sowas wie seine Kollegin, zuständig fürs Marketing des Kreativzentrums. „Die beste Frage, um das Eis zu brechen, ist: Wer hat was von Johannes Gutenberg gehört?“, sagt Karmen und lacht, dass ihre Locken wackeln.

Der heimliche Chef vom Aparaaditehas ist ein schwarz-weißer Kater.

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Stadtschreiberin trifft Stadtschreiberin

Was macht eigentlich eine Stadtschreiberin? Ich schaue Maarja Pärtna an. Normalerweise muss ich diese Frage beantworten, endlich kann ich sie mal stellen. Meine Antwort reicht von Menschen treffen und Tartu entdecken über ein Erzählcafé veranstalten bis hin zu: meine Erlebnisse auf dem Blog dokumentieren. Ich bin immer auf der Suche nach Geschichten. Und Maarja?

Sie überlegt nicht lang. Tartu ist Stadt der Literatur, erzählt sie, Teil eines weltweiten Netzwerks kreativer Städte, ein Unesco-Projekt. Heidelberg gehört dazu, und Bremen, Vilnius und Odessa, Barcelona, Bagdad und Beirut. Gerade sei eine Autorin aus Reykjavik da, sagt Maarja, die sich um die Gast-Autorinnen kümmert, das Literaturfestival mitorganisiert und auch sonst alle Netzwerk-Veranstaltungen in Tartu in diesem Jahr koordiniert.

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Lilly und die Kunst

Es ist dann doch immer wieder erstaunlich, wie schnell wir Menschen uns an Neues gewöhnen. Ich meine vor allem Alltägliches. Die quietschende Eingangstür im Haus, mein täglicher Weg über den Domberg, Treppe rauf, Treppe runter, die ballernde Sonne. Vielleicht liegt es am Norden, aber 25 Grad fühlen sich hier irgendwie wärmer an als in Berlin.

Teufelsbrücke, Engelsbrücke, küssende Studenten. Das schiefe Haus.

Und das schiefe Haus steht wirklich verdammt schief. 5,8 Grad neigt es sich, wenn man vom Rathausplatz schaut, nach links. Das sind fast zwei Grad mehr als der Turm in Pisa! Trotzdem fällt es nach dreimal dran vorbeilaufen gar nicht mehr auf. Ist eben schief. Der Grund ist übrigens derselbe wie in Pisa: sumpfiger, weicher Boden. Tartus schiefes Haus wurde 1793 gebaut, eine Hälfte stützt sich auf die alte Stadtmauer, die andere auf Pfähle. Und dass die nicht gleichmäßig in den morastigen Untergrund einsinken, kann man hier sehen.

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Lieblingsbrot

Das Wichtigste ist, den Teig am Leben zu halten. Und so löffelt Marko Sooru erstmal 200 Gramm schleimig-beigen Rohteig in eine Plastikdose. „Starter“, nennt Marco, was in der Dose wackelt, macht einen Deckel drauf und stellt es in den Kühlschrank. Sauerteig lebt, und so sind diese paar Gramm jeden Tag Grundlage für neuen Teig, für neues Brot.

Vor mir schwimmt der große Rest des Rohteigs in einer silbernen Wanne. 200 Gramm Starterteig, vermengt mit Wasser und Mehl, gestern Abend schon. Ich stehe in der Backstube des Toome Kohvik. Von außen gänzlich unscheinbar liegt das Café unterhalb des Dombergs. Von drinnen schaut man auf Tennisplätze.

„Man mixt alle Zutaten, füllt den Teig in die Form, lässt ihn anderthalb bis zwei Stunden gehen, bäckt ihn“, fasst Marco zusammen, was mich gleich erwartet. Marko managt das Café, er ist studierter Forstwirt, der nach ein paar Jahren auf die Gastronomieschule wechselte, Fachmann für Backen und Braten wurde. Heute gibt er mir einen Crashkurs im Brotbacken.

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In den Stürmen der Welt

Vor dem Krieg war ich: Happy

Jetzt bin ich: trauriges Smiley

Zwei Pinnwände, zwei Satzanfänge, darunter Zettel, auf denen jede und jeder ergänzen kann, was sie oder er gerade fühlt. Vor dem Krieg habe ich in einer Bank gearbeitet, hat jemand geschrieben. Und daneben: Jetzt habe ich keinen Job, mache mir Sorgen um meine Familie in Kyjiw, habe Angst.

Plötzlich wird das Kulturhauptstadt-Motto brutal real. Arts of Survival, Überlebenskünste.

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Sprüche an der Wand

Mit jedem Stock wird die Treppe schmaler, knarzt das Holz ein bisschen mehr, bis ein dunkler, massiver Holzbalken neben mir aus der Wand ragt, breit und hoch wie mein Unterarm. Er kündet von dem, was hinter der Tür liegt, vor der ich jetzt stehe: der Dachboden der Universität Tartu. Tür auf, Tür zu, Dämmerlicht. Holzbalken, die das Dach tragen, ein Weg aus Brettern, noch eine Tür. Dahinter ein Raum. Zwei Minifenster, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, in der Ecke ein Plumpsklo. Der Raum gerade so groß, dass man darin herumtigern kann.

Die Wände sind mit Sprüchen und Bildern bekritzelt. Da steht zum Beispiel auf Deutsch: Ein Fehler ist im Schöpfungsplan, dass man im Schlaf nicht trinken kann.

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