Ein Abschied

Dicht und dick hängt der Nebel morgens in den Straßen, macht die Welt klein, hüllt sie ein, wie ich mich in meine Decke. Draußen klappen die Tartuerinnen ihre Kragen nach oben, immer öfter sehe ich jetzt Handschuhe, Mützen, dicke Jacken, rieche die schwere Luft, wenn in den Häusern die Kamine befeuert werden. Es ist Herbst geworden.

Jeden Tag steht die Sonne ein bisschen tiefer, verfärben sich die Blätter rot und gelb und braun. Die Nächte? Längst wieder pechschwarz. Mehr als fünf Monate sind vergangen, seit ich in Tartu aus dem Zug gestiegen bin.

Zeit, zurückzublicken. Zeit, Abschied zu nehmen.

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Johannes Gutenberg geht impfen

Am liebsten hängt der Chef vor dem Buchladen ab. Sein Lieblingsplatz: ein dunkelblauer, schon reichlich zerkratzter Sessel, auf dem ein grünes Kissen liegt. Karmen Otu streicht Johannes Gutenberg über den Kopf. Kein Event sei so leicht zu organisieren gewesen wie sein zehnter Geburtstag. Johannes ist der älteste Nutzer des Aparaaditehas – „unser Chef und Community-Manager“, sagt Karmen. Sie ist sowas wie seine Kollegin, zuständig fürs Marketing des Kreativzentrums. „Die beste Frage, um das Eis zu brechen, ist: Wer hat was von Johannes Gutenberg gehört?“, sagt Karmen und lacht, dass ihre Locken wackeln.

Der heimliche Chef vom Aparaaditehas ist ein schwarz-weißer Kater.

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In den Stürmen der Welt

Vor dem Krieg war ich: Happy

Jetzt bin ich: trauriges Smiley

Zwei Pinnwände, zwei Satzanfänge, darunter Zettel, auf denen jede und jeder ergänzen kann, was sie oder er gerade fühlt. Vor dem Krieg habe ich in einer Bank gearbeitet, hat jemand geschrieben. Und daneben: Jetzt habe ich keinen Job, mache mir Sorgen um meine Familie in Kyjiw, habe Angst.

Plötzlich wird das Kulturhauptstadt-Motto brutal real. Arts of Survival, Überlebenskünste.

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Annelinn

„Hier hat er gewohnt, der berühmteste Eismann von Annelinn“, sagt Jordi, und zeigt auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Ein sanierter Plattenbau, fünf Stockwerke, die Balkone zur Straße. Nach Eismann sieht es hier ganz und gar nicht aus. „3, 2, 1“, zählt Jordi runter, dann rufen wir: „Eiscreme!“. Ganz oben öffnet sich die Glasverkleidung, die den Balkon zum Wintergarten macht, eine Frau schaut runter, in der Hand: ein in rosa Plastik verpacktes Eis! Sie lässt es fallen, Jordi fängt, also fast.

War das Zufall? Die Geschichte vom Eismann ist wahr, der Rest – ist Teil von „Läbi Linna – Through the City“, ein als Stadtführung getarntes Theaterstück. Aufgeführt zwischen den Plattenbauten von Annelinn, von Schauspieler:innen, Bewohner:innen – und uns. Ich bin Teil der Gruppe, die Jordi durch Annelinn folgt.

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