Das Archiv

Volkszählung? Es gab damals eine Volkszählung? Meine Augen werden groß und größer. Volkszählung, das heißt amtlich erhobene Daten, statistisch ausgewertet und aufbereitet. Zumindest denke ich das. Ich will wissen, wie die Bevölkerung in und um Tartu beziehungsweise Dorpat im 19. Jahrhundert aussah, so rein zahlenmäßig.

In Dorpat gab es kaum Deutschbalten, hatte mir ein paar Wochen zuvor jemand erzählt, die Zahl fünf Prozent in den Raum gestellt. Aber dann lese ich ständig und überall von deutschbaltischen Wissenschaftlern, Schriftstellern, Politikern, Baumeistern. Karl Ernst von Baer (der „Alexander von Humboldt des Nordens“), Johann Heinrich Bartholomäus Walther (Dorpater Stadtbaumeister, entwarf u.a. das Rathaus), Georg von Oettingen (Bürgermeister 1878-1891), Carl Schirren (Historiker, an der Uni als Professor tätig). Die Liste ließe sich ewig fortsetzen – mit Männern, Frauen finde ich in den Geschichtsbüchern so gut wie nie.

„Das Archiv“ weiterlesen

Johanni, Jaanipäev oder einfach Jaani

„Jestern war Johanni. Sie wissen ja, daß bei uns in Eestland Johanni ein großes Pidu ist, das größte vom ganzen Sommer. Unsere Perenaine kam mit ihrer Schwester, um mit uns zu feiern. Am Telephon sagte sie, wir wollten ordentlich schwuchten; aber wie soll man das, ohne das kleinste bißchen zum Anbieten? In unserer Schafferei steht kein Bierchen, kein Allasch, nicht mal Kwas. Meine Frau backte schnell ein paar Kohlpiroggen, – Speck haben wir ja nicht, – aber weil sie zwischendurch immer ihren dämlichen Dante las, verbrannten die Piroggen von unten. Strunt auch! Wir kratzten sie tüchtig ab und legten sie auf Erdbeerblätter. Ich kann Ihnen sagen: wunderhübsch!

„Johanni, Jaanipäev oder einfach Jaani“ weiterlesen

Sie singen

Wie eine bunt schillernde Schlange windet sich der Umzug durch die Straßen. Vom Rathausplatz bis zur Sängerbühne schlängelt er sich, linksrum, rechtsrum, den Berg rauf. Tausende Menschen mit Blumenkränzen im Haar, Fähnchen in den Händen, gemusterten Kleidern. Ketten aus Metall, Schuhe aus Leder, so, wie es früher getragen wurde. „Es lebe hoch der Chor aus Elva“, ruft ein Zuschauer, „Hurra!“, jubelt der Chor zurück. „Es lebe hoch das Treffner-Gymnasium“ – „Hurra“, antworten die Sänger:innen.

Ein großes Gewinke und Fahnen Gewackel.

Dann stellen sie sich auf der Bühne auf: 9.914 Sänger:innen, darunter 3.000 Kinder, das Orchester des Vanemuine-Theaters. Als das erste Lied beginnt – es ist immer „Koit“ von Mihkel Lüdig und Friedrich Kuhlbars -, stehen die 15.000 Menschen auf den Rängen auf, beim Laulupidu, dem Liederfest.

„Sie singen“ weiterlesen

Annelinn

„Hier hat er gewohnt, der berühmteste Eismann von Annelinn“, sagt Jordi, und zeigt auf das Haus auf der anderen Straßenseite. Ein sanierter Plattenbau, fünf Stockwerke, die Balkone zur Straße. Nach Eismann sieht es hier ganz und gar nicht aus. „3, 2, 1“, zählt Jordi runter, dann rufen wir: „Eiscreme!“. Ganz oben öffnet sich die Glasverkleidung, die den Balkon zum Wintergarten macht, eine Frau schaut runter, in der Hand: ein in rosa Plastik verpacktes Eis! Sie lässt es fallen, Jordi fängt, also fast.

War das Zufall? Die Geschichte vom Eismann ist wahr, der Rest – ist Teil von „Läbi Linna – Through the City“, ein als Stadtführung getarntes Theaterstück. Aufgeführt zwischen den Plattenbauten von Annelinn, von Schauspieler:innen, Bewohner:innen – und uns. Ich bin Teil der Gruppe, die Jordi durch Annelinn folgt.

„Annelinn“ weiterlesen

Barfuß durchs Gras

Von der Sonne verbrannt, von Mücken zerstochen und um 23 Uhr hellwach. Es ist Sommer in Estland!

Das mit dem Sonnenbrand sollte man nicht nachmachen, ich denke da immer an den Essay von Mary Schmich „Advice, like youth, probably just wasted on the young“, geschrieben 1997. Besser bekannt als vertonte Version, auf Deutsch von Dieter Brandecker eingesprochen. Der Titel: Sonnencreme.

Irgendwie dachte ich: Ach wird schon nicht nicht so doll, das mit der Sonne. Dabei hatte man mir gesagt, dass die Sommer hier kürzer, aber dafür intensiver seien. Schulen und die Uni jedenfalls machen von Juni bis August Sommerpause. Und wer hat, der fährt ins Sommerhaus. Hauptsache draußen.

Eine unvollständige Liste meiner bisherigen Draußenhighlights:

„Barfuß durchs Gras“ weiterlesen

Kastani 1

Blätter rascheln, Vögel zetern, Autos rauschen vorbei. Ich sitze auf der Bank vorm Hauseingang, die Sonne knallt, dabei ist es noch nicht mal Zehn. Ein Mann rollt auf Inline Skates vorbei, eine Frau mit Kinderwagen, der Holzzaun, der mich von ihnen trennt: mehr Grau als Rosa.

Samstagmorgen, mein zweiter Kaffee.

Deutsches Kulturinstitut Tartu Saksa Kultuuri Instituut steht in einem Bogen über der Eingangstür. Ich drücke die Tür auf. Ein Quietschen schallt durchs Haus.

„Kastani 1“ weiterlesen

Fünf Tage, sechs Züge

Draußen, vor dem Zugfenster, ziehen gelbe Felder, grüne Wiesen und braune Äcker vorbei. Holzkirchen, Windräder, Häuser wie in die Landschaft gewürfelt. Drinnen klopft der Koch auf einem Schnitzel herum, während ich meine Piroggi auf die Gabel spieße. Gut fünfeinhalb Stunden braucht der Berlin-Warschau-Express. Es ist der erste Tag.

Ich will nicht schnell irgendwohin, ich will reisen. 1.800 Kilometer von Berlin nach Tartu. Sechs Züge, fünf Tage, vier Landesgrenzen und eine Zeitzone.

17.30 Uhr, Warszawa Centralna, Sowjetschick inmitten von Hochhaustürmen. Ein kurzer Spaziergang, Hotel am Bahnhof, am nächsten Morgen stehe ich um 7.30 Uhr wieder an Gleis 2.

Im Abteil schnarcht ein Mann mit offenem Mund. Ich setze mich ans Fenster, mir gegenüber packen Vater und Tochter ihr Frühstück aus. Saulé ist Sieben, sie war bei den Großeltern in Warschau, fährt jetzt zurück nach Hause, nach Vilnius, erzählt sie.

„Fünf Tage, sechs Züge“ weiterlesen